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Von Vertrauen und Freiheit: Killt Effizienz unsere Kreativität?
Wir zur Lage der Kommunikation – alles tbd. Heute: Jennifer Stoppel über Erfolgsfaktoren für Kreativität.
Treiben wir die Optimierung der kreativen Arbeit derzeit zu weit? Was machen all unsere täglichen Prozesse mit ihr – killt das Streben nach Effizienz letztendlich sogar unsere Kreativität? Gibt es in unserem Business überhaupt noch Raum für künstlerische Freiheit – und vor allem das dafür nötige Vertrauen?
Kreativität ist unser täglich Brot, daher lohnt sich ein Blick darauf, unter welchen Bedingungen kreative Arbeit am besten gelingen kann. Vor allem die letzten zwölf Monate haben uns abermals vor Augen geführt, wie wichtig immer neue, kreative Lösungen in der Kommunikationsbranche sind. Mit der Corona-Pandemie kam von Kund:innenseite vielfach ein noch größerer Wunsch nach kreativer Kommunikation – zeitgemäß, aber disruptiv und das natürlich möglichst schnell. Dahinter steckt ein konstanter Schaffensdruck: immer neuer, immer kreativer, immer schneller und stets am Puls der Zeit. Sicher ist dieser Prozess nicht für alle Kreativschaffenden ideal, aber die gewünschten Kampagnen entstanden trotzdem – oder gerade deshalb? Es gibt wohl so viele unterschiedliche Herangehensweisen an kreatives Schaffen, wie es Kreative gibt. Der ideale Prozess ist sehr individuell. Aber gibt es gängige Theorien und Prinzipien, die unsere tägliche Arbeit erleichtern oder sogar verbessern können?
Ich habe den Leitsatz „Je präziser das Briefing, desto besser das Ergebnis.” schon hunderte Male gehört. Ich habe Konzepte gesehen, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet wurden, und wenn sie bei den Kreativen oder Fotograf:innen ankommen, bleibt kaum noch Raum für kreative Entfaltung. Deshalb komme ich nicht umhin, mich zu fragen: Sind es der enorme Druck auf die sogenannten Creatives und die straffen Arbeitsprozesse, die ihre Kreativität letztendlich behindern?
Für exzellente Kreativarbeit braucht es Vertrauen
Die Notwendigkeit den Gestalter:innen und Kreativen zu vertrauen, wird immer wieder betont. Doch für mich hat es Grace Coddington in dem Film „The September Issue” anno 2009 besonders gut zusammengefasst. Und das Thema kam für mich im vergangenen Jahr in einer Diskussion über die zukünftige Bildwelt der Automobilindustrie mit Anatol Kotte – ein Kreativkollege, mit dem ich damals ein Projekt startete – wieder auf. Ihre Worte blieben mir im Kopf und lassen mich bis heute grübeln, was wir in unserer Branche aus dem kreativen Schaffensprozess gemacht haben – und ob wir dieses Vorgehen überdenken sollten. Sie sprachen beide eine ähnliche Notwendigkeit und ein ähnliches Anliegen an, nämlich die Erfordernis für einen Raum, in dem Kreativität geschehen kann, in dem sie sich entfalten und zum Leben erwachen kann.
Wenn Vertrauen und Freiheit für unsere Arbeit essentiell sind – wie etablieren wir sie in unserem Alltag? Wir sprechen immer wieder von authentischen Inhalten und kreativer Exzellenz. Müssen wir also Räume schaffen, in denen sich Kreativität frei entfalten kann, um beides zu ermöglichen? Wo fangen wir dafür an? Und wie fangen wir an? Fragen über Fragen. Die erste muss wohl lauten: Was ist Kreativität überhaupt und wie können wir sie zugänglich machen? Denn wie eingangs erklärt, gibt es hierbei viele Möglichkeiten, ans Ziel zu kommen.
„Müssen wir Räume schaffen, in denen sich Kreativität frei entfalten kann, um authentischen Inhalte und kreative Exzellenz zu ermöglichen?“
Wie viel ist zu viel Freiheit? Von der Gefahr sich zu verzetteln
Eine Studie von Jerry Uelsmann* in seiner Fotografie Klasse im ersten Studienjahr untersuchte diese Fragestellung. Dort bildeten die Studierenden zwei Gruppen: Die eine Hälfte hatte den Titel „Quantität”, ihre Aufgabe war es, in einem Semester so viel Kunst wie möglich zu schaffen. Am Ende des Semesters galt: je mehr Quantität, desto besser die Note. Die andere Gruppe hatte den Titel „Qualität”; sie hatten das ganze Semester Zeit, um ein perfektes Bild für ihre Endnote zu erarbeiten. Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, was passierte.
Die Gruppe „Quantität” hatte viele Experimente gemacht und hunderte von Fotos erstellt, die immer besser wurden. Die Gruppe „Qualität” hingegen spekulierte zu viel über die Bedeutung von Perfektion und lieferte im Vergleich dazu vage Theorien und mittelmäßige Bilder ab. Uelsmann resümierte: „Mir geht es wirklich sehr darum, eine Haltung der Freiheit und des Wagemuts gegenüber dem Handwerk der Fotografie zu fördern.” Ich denke, Raum und Zeit können für kreative Arbeit hilfreich sein, aber es kommt darauf an, wie man die Kreativität erforscht – es kann ebenso ein zu großer Raum entstehen, in dem man sich verliert und dann leicht mit einer Idee stecken bleibt.
Über Kreative, Künstler:innen und Genies
Gibt es einen Unterschied zwischen „Kreativen” und „Künstler:innen”? Oder sind „Kreative” auch „Künstler:innen” in einer Arbeitsumgebung mit hohem Output? Und was ist dann mit dem enormen Druck, der auf den Kreativen lastet? Wie können wir den Stress reduzieren?
Elizabeth Gilbert sinniert über die unmöglichen Dinge, die wir von Künstler:innen erwarten – und teilt in einem TED-Talk eine radikale Idee: Statt dieser seltenen Personen, die Genies „sind”, „hat” jede:r von uns ein Genie. Es ist ein witziger, persönlicher und überraschend bewegender Vortrag; sie spricht in diesem Zusammenhang vor allem darüber, dass sich Kreativschaffende von ihren kreativen Egos lösen sollten. Hilft uns dieser Ansatz, freier zu arbeiten?
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Kreativschaffende sollten sich von ihren kreativen Egos lösen.
Sollten wir uns dann vor allem von der Idee trennen, in allem perfekt sein zu wollen, und stattdessen einfach machen, einfach da sein und die Arbeit machen? Einer meiner liebsten Freunde, Paul Russell, Managing Director bei Kallan & Co Australien, sagte an der Universität immer zu mir: „Just smash it out.” Do it, don't think too much – einfach machen. Genau diese Idee spiegelt sich auch in der oben genannten Studie wider.
Ein gutes Briefing zeichnet sich durch kreativen Freiraum und Vertrauen aus
Diese Methode bringt mich zu einem Teil des kreativen Tagesgeschäfts, bei dem der Zeitdruck nicht von der Hand zu weisen ist: „Always On”-Content. Kurze Timings, grobe Briefings und Konzepte und knappe Budgets. Dennoch hat meine Erfahrung gezeigt, dass in diesem Bereich meist ein winziger Raum entsteht – eine Art Lücke, in der wir auf Vertrauen setzen müssen. Auf das Vertrauen in die Stylist:innen oder Fotograf:innen, und in der die Kund:innen auch uns Vertrauen entgegenbringen. Ich sage nicht, dass dieses zeitlich knapp bemessene Modell Schule machen sollte, weil es sehr stressig ist. Aber die Faktoren sind interessant. Mein Gedanke ist eher: Können wir diesen Rahmen, in dem wir Raum für kreative Freiheit und Vertrauen haben, in andere Arbeitsprozesse einbringen? Und kann uns das nicht sogar helfen, authentische und originelle Narrative zu schaffen?
*Erschienen in Kunst und Angst: Feststellungen über die Gefahren (und Belohnungen) des Kunstschaffens, Autoren: David Bayles & Ted Orland.
Über die Autorin
Jennifer Stoppel ist Head of Brand Experience und leitet das Kreations-Team in Hamburg. Bei fischerAppelt entwickelt sie mit ihrem multidisziplinären Team aus Designern und Art Directors dank eines ganzheitlichen Ansatzes Designs, Marken, Brand Spaces und visuellen Geschichten für B2B- und B2C-Kunden. Sie ist in Neuseeland aufgewachsen und hat die letzten zehn Jahre in Hamburg gearbeitet. Ihr Hands-on-Ansatz und ihre „Kiwi-Ingenuity” treiben sie an, stets kreative und neue Lösungen zu finden.