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Anders als normal

Unsere Arbeit am “Shoah Memorial Frankfurt”

Roman Hilmer

Roman Hilmer

Chief Creative Officer

Am Anfang war die Rache

Unser Zug war pünktlich. So hatten wir vor unserem Termin noch etwas Zeit, uns die Sonderausstellung ‘Rache – Geschichte und Fantasie’ im Jüdischen Museum Frankfurt anzusehen. Diese begann – überraschend popkulturell – mit dem Baseball-Schläger von Donny “The Bear Jew” Donowitz, einem Requisit aus dem Tarantino-Streifen Inglorious Basterds. Im Film schlägt Donny mit dem Knüppel Nazi-Schädel ein, oder wie Brad Pitt in seiner Rolle als Lieutenant Aldo Rain es ausdrückt, “We Ain't In The Prisoner-Takin' Business; We're In The Killin' Nazi Business.”

Auch die weiteren Exponate der Ausstellung zeigten Menschen und Geschichten, die nicht unbedingt dem Klischee der, wie es Mit-Kurator Max Czollek formuliert, “guten, unschuldigen jüdischen Opfer” entsprachen. Vielmehr erfuhren wir von wehrhaften Frauen (Judith mit dem Kopf des Holofernes), entschlossenen Attentätern (Herschel Grynszpan, der im November 1938 in Paris fünf mal auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath schoss), verschiedenen Golem-Variationen und Comic-Helden, die mit Superkräften Nazis bekämpfen.

Gegen Ende unseres Rundgangs waren Briefe und Botschaften ausgestellt. Viele davon lasen sich wie eine Art letzter Wille von Menschen in Konzentrationslagern, sie riefen zur Rache auf oder verliehen der Hoffnung auf Vergeltung Ausdruck. Es war eine genauso überraschende wie aufwühlende Ausstellung und sie machte Eindruck auf uns. Einen Eindruck, den wir mit in unseren Termin nahmen, der den Beginn unserer Arbeit am “Shoah Memorial Frankfurt” markierte.

Gedenken und Archiv

Das “Shoah Memorial Frankfurt ” macht die individuellen Geschichten von über 12.000 während des NS-Regimes ermordeten Menschen der jüdischen Gemeinde Frankfurt für Recherchen zugänglich. Die Web-Plattform ist kein Ort, so wie die Gedenkstätte Neuer Börneplatz ein Ort ist, mit ihrem Namensfries auf der Friedhofsmauer des Jüdischen Friedhofs an der Battonnstraße. Der Plattform fehlen sowohl die Umgebung als auch die Atmosphäre des geografisch-historischen Platzes. Insofern machte es aus unserer Sicht keinen Sinn, den Ort nachzubauen. Vielmehr verstehen wir das Memorial als Ergänzung der lokalen Gedenkstätte und ein digital zugängliches Archiv. Neben dem Gedenken an die Ermordeten wird im “Shoah Memorial Frankfurt” auch das Leben der Menschen dargestellt. Vom Börneplatz haben wir die “Steine” aufgegriffen, die Besuchende auf den Namens-Blöcken abgelegt haben. Sie sind Ausdruck jüdischer Tradition, Steine auf Gräbern zu hinterlassen, und sie zeugen von den vielen Menschen, die der Gedenkstätte einen Besuch abgestattet haben. Für uns sind sie Symbole für eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart.

Die Steine liegen auf über 11.000 Namens-Blöcken, die an der Mauer des Alten Jüdischen Friedhofs angebracht sind. Aus der Distanz betrachtet, bilden die Blöcke ein repetitives Muster, welches das Ausmaß der Vernichtung andeutet (so erklärt es Architekt Nikolaus Hirsch in diesem Interview ). Beim Herantreten werden Namen, Geburtstag, Todestag und Sterbeort der Menschen lesbar. Dieses Prinzip aus Distanz und Nähe haben wir beibehalten, beschränken uns allerdings auf die Namen und die Steine. Auch diese können in verschiedenen Zoom-Stufen betrachtet werden und vermitteln so einen Eindruck vom Ausmaß der Vernichtung. Hinter jedem Stein liegt ein Datensatz mit den biografischen Informationen eines ermordeten Menschen.

Alle Daten entstammen einem Forschungsprojekt, welches das Jüdische Museum Frankfurt in den Jahren 1996 bis 2005 durchgeführt hat. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden zunächst in einer nicht-öffentlich zugänglichen Datenbank festgehalten. Über die Jahre gab es viele Anfragen von Angehörigen, Verwandten sowie Interessierten und Forschenden, um einen Einblick in die Daten zu erhalten. Im Rahmen des Kooperationsprojektes „Frankfurt und der Nationalsozialismus“ konnte diese Datenbank nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Dafür wurden die Informationen anhand neuerer Quellen noch einmal überprüft und ergänzt.

Die Plattform bietet Angehörigen und Nachfahren die Möglichkeit, sich mit ihren Wurzeln zu befassen. Sie lädt dazu ein, die Schicksale von bekannten und unbekannten Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zu erforschen. Sie kann im Unterricht für Schulklassen eingesetzt werden. Und sie ist partizipativ: Alle sind eingeladen, sich mit Korrekturen oder zusätzlichen Informationen und Bildern zu beteiligen, um so die Erinnerung an die Toten zu stärken.

Ästhetik, Performance und Zweifel

Im Entstehungsprozess haben wir viel über Gestaltung, Verhalten und Umsetzung der Steine diskutiert: Sollten wir sie realistisch darstellen und wenn ja, wie genau? Welche Auswirkungen haben ästhetische Entscheidungen auf die Performance oder die Reaktionszeiten der WebGL-Anwendung? Im Prototyp funktionierte alles reibungslos, aber was würde passieren, wenn wir von 2.500 Beispiel-Datensätzen auf 10.000 oder mehr gingen? Brauchen wir dann eine einfachere Darstellung? Macht eine vereinfachte Form nicht sowieso mehr Sinn, wo wir die Steine doch als Symbole verstehen? Können die Steine zusätzliche Informationen übermitteln, zum Beispiel über Quantität und Qualität der Datensätze?

Solche Fragen sind nichts Ungewöhnliches, es gibt sie bei jedem Projekt. Es sind gewissermaßen ‘normale’ Fragen nach Konzept, Form und Funktion. Bei diesem Projekt stellten wir uns aber auch andere Fragen. Sie kamen meistens in Momenten auf, in denen uns bewusst wurde, mit welchen Informationen wir es zu tun hatten. Momente, in denen aus Daten Biografien wurden, und in denen uns unsere Fragen nach Ästhetik der Steine oder Performance der Web Applikation unangebracht vorkamen.

Zum Beispiel Sali Goldblatt: Ein Junge, der kurz nach seinem 17. Geburtstag im Lager Auschwitz starb. Seine Schwester Helen wurde mit 15 Jahren ebenfalls in das Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt, wo auch sie vermutlich ermordet wurde. Man geht davon aus, dass die Mutter der beiden in das Getto Riga gebracht wurde, wo auch sie getötet wurde. Zwei weiteren Geschwistern gelang zwischen 1943 und 1940 die Flucht ins Exil nach Palästina.

Immer wenn wir die Inhalte an uns heran ließen, waren große Fragen im Raum – zu Schuld und Erinnerungskultur zum Beispiel –, Fragen, die wir in unserer Arbeit nicht auflösen konnten. Aber auch in den gestalterischen Details traten bei diesem Projekt Fragen auf, die sich in anderen Projekten selten stellen. Salomon Korn beschreibt in der Festschrift zur Übergabe der Gedenkstätte Neuer Börneplatz ein Dilemma, mit dem auch wir uns befassten: “…auch bei äußerster gestalterischer Zurückhaltung ästhetisiert eine gelungene Gedenkstätte immer ein Stück weit jenen Schrecken, der Gegenstand ihrer Mahnung ist. Gestalterische Bescheidung wird unumgänglich, wenn es darum geht, Raum für Erinnern möglichst groß, davon ablenkende künstlerische (Selbst-) Darstellung möglichst klein zu halten.” Also haben wir sehr viel Zeit darauf verwandt, Antworten auf viele vermeintlich einfache Fragen zu finden. Wie schön dürfen die Steine sein? Dürfen sie überhaupt schön sein? Welche Farben sind die richtigen oder sind Farben per se unangemessen? Mehr als in anderen Projekten haben wir unsere eigenen Antworten immer wieder in Frage gestellt, haben Varianten ausprobiert und sie wieder verworfen.

Rückblickend war die ausführliche Auseinandersetzung mit gestalterischen und funktionalen Details wohl unsere Suche nach einem respektvollen Umgang mit der Gedenkkultur und den Biografien. Dabei hat uns sehr geholfen, dass wir mit dem Team des Jüdischen Museum Frankfurt ein tolles Gegenüber hatten, mit dem wir all unsere Gedanken, Zweifel und Fragen offen diskutieren konnten.

Aufgewühltes Fazit

Wir hoffen, dass wir mit dem Anfang November veröffentlichten “Shoah Memorial Frankfurt” eine angemessene Balance aus Inhalt, Form und Funktion gefunden haben. Auf jeden Fall macht die Plattform die vielen biografischen Informationen öffentlich, die bisher nicht – oder nur auf Anfrage – zugänglich waren. Es wäre schön, wenn Angehörige mit Hilfe des Recherche-Tools wertvolle Puzzlesteine zu ihrer eigenen Geschichte fänden.

Wir haben bei dem Projekt viel gelernt, weil wir vieles anders gemacht haben als sonst. Nicht nur konzeptionell, gestalterisch und technisch – das Projekt selbst war anders. Es war Anlass, über unsere eigene Erinnerungskultur nachzudenken, in der wir uns vielleicht etwas zu gemütlich eingerichtet haben. Die Projektarbeit begann mit der Sonderausstellung zum Thema Rache im Jüdischen Museum Frankfurt, die uns irgendwie aufgewühlt hat. Jetzt, nach Abschluss des Projekts, sind wir noch immer aufgewühlt – vielleicht gar kein so falscher Zustand in der heutigen Zeit.

Fork – Agentur für digitale Lebensaspekte

Das Shoah Memorial Frankfurt  ist ein Projekt von Fork Unstable Media  und wurde im November 2021 veröffentlicht. Die Agentur hat die Mission, die digitalen Aspekte des Lebens zu verbessern. Dafür setzt Fork auf kreative Lösungsstrategien, nachhaltige Gestaltung und maßgeschneiderte Technologien.

Ansprechpartner

Roman Hilmer

Chief Creative Officer